1. NEUERUNGEN IM ÜBERBLICK
Dieser Newsletter gibt eine Übersicht über die für die Praxis wesentlichen Neuerungen des revidierten VVGs, welches voraussichtlich auf den 1. Januar 2021 in Kraft treten wird. Die Teilrevision bringt u.a. Neuerungen im Bereich der Abschluss- und Kündigungsbestimmungen, der Verjährungsfristen, des Leistungsschutzes und des direkten Forderungs- und integralen Regressrechts bei Haftpflichtversicherungen.
2. DER ABSCHLUSS DES VERSICHERUNGS-VERTRAGES UND INFORMATIONSPFLICHTEN
Mit Art. 2a Abs. 1 bis 5 VVG wird das Widerrufsrecht des Versicherungsnehmers erweitert. Bei anteilsgebundenen Lebensversicherungen muss der zum Zeitpunkt des Widerrufs geltende Wert zurückerstattet werden. Das erweiterte Widerufsrecht gilt nicht bei kollektiven Personenversicherungen, vorläufigen Deckungszusagen sowie bei Vereinbarungen mit einer Laufzeit von weniger als einem Monat.
Des Weiteren kann eine unbefristete Deckungszusage neu mit einer Frist von 2 Wochen gekündigt werden. In der Praxis findet ein solches Vorgehen bereits heute breite Anwendung. Der neue Art. 9 VVG wird gemäss Art. 98 VVG teilzwingend ausgestaltet.
Zudem gelten neu strengere Informationspflichten seitens des Versicherungsunternehmens. So sieht Art. 3 Abs. 1 VVG beispielsweise eine erweiterte Informationspflicht betreffend der Schadenanzeigefrist oder auch des Vorliegens einer Summen- oder Schadenversicherung vor.
3. NEUE KÜNDIGUNGSBESTIMMUNGEN
3.1 Absolute Kündigungsfrist von 2 Jahren bei Verletzung der Informationspflicht
Unverändert bleibt das Kündigungsrecht des Versicherungsnehmers im Falle einer Verlet-zung der Informationspflicht durch das Versicherungsunternehmen mit einer relativen Frist von 4 Wochen ab Kenntnis der Pflichtverletzung. Neu wird mit Art. 3a Abs. 2 VVG eine absolute Frist von 2 Jahren anstelle wie bisher 1 Jahr ab Pflichtverletzung der in Art. 3 VVG statuierten vorvertraglichen Pflichten gelten.
3.2 Neue (dispositive) Kündigungsfrist bei ordentlicher Kündigung
Auch wenn eine längere Vertragsdauer vereinbart wurde, so besteht mit Ausnahme von Lebensversicherungen grundsätzlich ein Kündigungsrecht für Versicherungsnehmer und Versicherungsunternehmen auf das Ende des dritten oder jedes folgenden Jahres unter Einhaltung einer Frist von drei Monaten. Die Parteien können aber vereinbaren, dass der Vertrag schon vor Ablauf des dritten Jahres kündbar ist. In diesem Falle müssen gemäss neuem Art. 35a VVG die vereinbarten Kündigungsfristen für beide Parteien gleichlang sein.
3.3 Jederzeitige ausserordentliche Kündigung aus wichtigem Grund
Mit dem neuen Art. 35b VVG wird bereits bestehende bundesgerichtliche Rechtsprechung kodifiziert. Danach kann ein Versicherungsvertrag jederzeit gekündigt werden, wenn nicht voraussehbare regulatorische Vorgaben die Erfüllung des Vertrags verunmöglichen oder wenn Umstände vorherrschen, die der kündigenden Person nach Treu und Glauben die Fortsetzung des Vertrags als nicht mehr zumutbar gelten.
3.4 Ausweitung Kündigungsrecht in der Kollektivtaggeldversicherung für das Versicherungsunternehmen
Unter dem neuen Art. 35a Abs. 4 VVG steht in der kollektiven Taggeldversicherung das ordentliche Kündigungsrecht und das Kündigungsrecht im Schadenfall (Art. 42 Abs. 1 VVG) beiden Parteien zu. Als Begründung wird aufgeführt, dass eine Kollektivkrankentaggeldversicherung in erster Linie dazu dient, ein Unternehmerrisiko abzusichern. Es gebe keinen Grund, für die kollektive Krankentaggeldversicherung dem Versicherer ein Kündigungsverbot aufzuerlegen.
3.5 Gefahrsminderung und Kündigungsrecht
Mit dem in den Räten stark umstrittenen neuen Art. 28a VVG steht dem Versicherungsnehmer bei einer wesentlichen Gefahrsminderung ein Kündigungsrecht mit einer Frist von vier Wochen zu.
3.6 Kündigungsrecht bei Mehrfachversicherung
Der bisherige Art. 53 VVG zur „Doppelversicherung" wird neu als Art. 46b VVG „Mehrfachversicherung" geführt und beinhaltet eine wesentliche Änderung unter Abs. 2. Neu soll dem Versicherungsnehmer, welcher beim Abschluss des auch bei einem anderen Versicherungsunternehmen später abgeschlossenen Vertrags keine Kenntnis vom Entstehen einer Mehrfachversicherung hatte, ein Kündigungsrecht für diesen zuletzt abgeschlossenen Vertrag innert vier Wochen seit der Entdeckung der Mehrfachversicherung zustehen.
4. OBLIEGENHEITSVERLETZUNG UND DEREN FOLGEN
Nach geltendem Recht sind die Folgen einer Obliegenheitsverletzung in Art. 29 Abs. 2 VVG und Art. 45 Abs. 1 VVG normiert. Während Art. 29 Abs. 2 VVG unverändert beibehalten wird, erfährt Art. 45 Abs. 1 VVG eine Neuerung. Danach tritt ein Rechtsnachteil bei Verletzung einer vertraglich vereinbarten Obliegenheit nicht ein, wenn die Verletzung unverschuldet erfolgte oder der Versicherungsnehmer nachweist, dass die Verletzung keinen Einfluss auf den Eintritt des befürchteten Ereignisses und auf den Umfang der Versicherungsleistung gehabt hat. In Lehre und Praxis umstritten waren bis anhin Fragen zur Rechtsnatur, zu den Voraussetzungen (Kausalitätserfordernis und/oder Verschulden), zur Beweislast und auch zu den Rechtsfolgen („alles-oder-nichts-Prinzip" oder verschudensabhängige Kürzung). Leider wird auch die bevorstehende Teilrevision nicht sämliche Unklarheiten beseitigen. Weiterhin zulässig ist die Statuierung eines „Alles-oder-nichts"-Prinzips. Eine angemessene Reduktion der Rechtsnachteile nach Massgabe des Verschuldens ist somit auch in der revidierten Version des VVGs nicht ausdrücklich vorgesehen. Zudem wird die unterschiedliche Regelung der Beweislast von Art. 29 Abs. 2 VVG und dem neuen Art. 45 Abs. 1 VVG für weitere Unsicherheit sorgen.
Eine weitere wichtige Änderung betrifft die Bestimmungen zur Anzeigepflichtverletzung. Die „Nachmeldepflicht" entfällt, d.h. die Pflicht des Versicherungsnehmers, über allfällige Änderungen einer bereits angezeigten Gefahrentatsache noch vor dem eigentlichen Abschluss des Vertrages (nochmals) zu informieren, fällt gemäss Neuformulierung von Art. 6 Abs. 1 VVG weg.
Des Weiteren gilt neu gemäss Art. 6 Abs. 3 VVG eine kausalitätsabhängige bzw. quotenbasierte (teilweise) Leistungsbefreiung aufgrund einer nachgewiesenen Anzeigepflichtverletzung: „Wird der Vertrag durch Kündigung nach Absatz 1 aufgelöst, so erlischt auch die Leistungspflicht des Versicherers für bereits eingetretene Schäden, soweit deren Eintritt oder Umfang durch die nicht oder unrichtig angezeigte erhebliche Gefahrstatsache beeinflusst worden ist. Soweit die Leistungspflicht schon erfüllt wurde, hat der Versicherer Anspruch auf Rückerstattung."
In der Praxis bestand bis anhin Unsicherheit bezüglich Fragen der Rechtsnatur, der Voraussetzungen (Kausalität und/oder Verschulden), der Beweislast und auch der Rechtsfolgen („alles oder Nichts"-Prinzip oder Reduktion/Kürzung).
5. 5 JÄHRIGE VERJÄHRUNGSFRIST FÜR VERSICHERUNGSVERTRAGLICHE FORDERUNGEN
Für Forderungen aus dem Versicherungsvertrag gilt gemäss Art. 46 Abs. 1 VVG neu eine 5 jährige Verjährungsfrist ab Eintritt der Tatsache, welche die Leistungspflicht begründet. Als Ausnahme gelten Leistungen aus Krankentaggeldversicherung, für welche wie bisher eine Frist von 2 Jahren gilt.
6. „LEISTUNGSSCHUTZ" BEI HÄNGIGEN VERSICHERUNGSFÄLLEN
Mit dem neuen Art. 35c VVG werden zukünftig Klauseln verboten, welche es einem Versicherungsunternehmen ermöglichen, bei Beendigung des Vertrags nach Eintritt des befürchteten Ereignisses bestehende periodische Leistungspflichten als Folge von Krankheit oder Unfall bezüglich Dauer oder Umfang einseitig zu beschränken oder aufzuheben.
7. MÖGLICHKEIT DER RÜCKWÄRTSVERSICHERUNG
Bis anhin sind Rückwärtsversicherungen, mit Ausnahme für Feuer- und Transportversicherungen, grundsätzlich nichtig. Mit der neuen Bestimmung von Art. 10 VVG wird die Möglichkeit einer Rückwärtsversicherung, d.h. ein Versicherungsvertrag mit Wirkung auf einen Zeitpunkt vor dessen Abschluss, zugelassen, sofern ein versicherbares Interesse besteht. Nichtig soll eine Rückwärtsversicherung dann sein, wenn lediglich der Versicherungsnehmer oder der Versicherte wusste oder wissen musste, dass ein befürchtetes Ereignis bereits eingetreten ist. Mit anderen Worten lässt die angestrebte Bestimmung „unmögliche" Verträge dann zu, wenn beide Parteien nicht wissen, dass das befürchtete Ereignis bereits eingetreten ist. Ob solche Fälle über Art. 20 OR gelöst werden können ist fraglich und wird in Zukunft für weiteren Diskussionsstoff sorgen.
8. NEUERUNGEN IN DER HAFTPFLICHTVERSICHERUNG
8.1 Direktes Forderungsrecht
Neu wird dem geschädigten Dritten oder dessen Rechtsnachfolger im Rahmen einer allfällig bestehenden Versicherungsdeckung und unter Vorbehalt der Einwendungen und Einreden, die ihm das Versicherungsunternehmen aufgrund des Gesetzes oder des Vertrags entgegenhalten kann, ein direktes Forderungsrecht gegenüber dem Versicherungsunternehmen zustehen (Art. 60 Abs. 1bis VVG). Die Bedingungen, die der Gesetzgeber zuerst an ein solches direktes Forderungsrecht knüpfen wollte, liess er in der Differenzbereinigungsphase fallen.
Ein solches direktes Forderungsrecht ist grundsätzlich nichts Neues, stand bisher aber nur nach spezialgesetzlichen Normen (wie z.B. SVG bzgl. Motorhaftpflichtversicherungen) zur Verfügung.
8.2 Integrales Regressrecht für Schadenversicherer
Die Räte waren sich einig, dass der bis anhin geltende Art. 72 VVG als überholt zu betrachten ist und das bereits vom Bundesgericht vorweggenommene integrale Regressrecht des Schadenversicherers unter dem neuen Art. 95c kodifiziert werden soll. Bis anhin bzw. bis zum wegweisenden Urteil des Bundesgerichts BGE 144 III 209 galt für Versicherungsunternehmungen, welche vertraglich vereinbaren, einen Schaden zu decken, die Regresskaskade von Art. 51 Abs. 2 OR. Der Schadenversicherer stand somit als „Vertragshaftender" auf der mittleren Regressstufe, was dazu führte, dass ihm ein Regressrecht auf den Kausalhaftpflichtigen verwehrt blieb. Mit Einführung von Art. 95c Abs. 2 wird das integrale Regressrecht (analog Art. 72 ATSG) für den Schadenversicherer kodiert. Zur Veranschaulichung folgendes Beispiel: Ein Werkmangel an einem Wohnhaus führt zu einem Wasserschaden im Keller der Familie B des Nachbarhauses. Die Hausratversicherung der Familie B bezahlt vorweg den Schaden am Hausrat, kann nun jedoch gemäss Art. 95c Abs. 2 Regress nehmen auf den Werkeigentümer, welcher für den Werkmangel aus der Kausalhaftung von Art. 58 OR haftet.
Des Weiteren wird die Bestimmung zum Regressprivileg anhand der bereits in der Praxis gelebten Definition der „engen Beziehung" konkretisiert und unter lit.a (in einer häuslichen Gemeinschaft lebend) und lit. b (in einem Arbeitsverhältnis mit dem Versicherten stehend) gesetzlich verankert.
Einig ist man sich auch, dass Art. 95c Abs. 1 und 2 als absolut zwingende und Abs. 3 als relativ zwingende Bestimmungen kodiert werden sollen.
8.3 Verbot von Regressausschlussklauseln und weitergehender Versicherungsschutz in der Haftpflichtversicherung
Die Räte waren sich einig, dass die bisher in der Versicherungspraxis verbreiteten Regressausschlussklauseln (sog. „Suva-Klauseln") in Zukunft nicht mehr möglich sein sollen. Neben Ersatzansprüchen der Geschädigten werden neu gemäss Art. 59 Abs. 2 VVG auch explizit die Rückgriffansprüche Dritter (wie beispielsweise der Sozialversicherer) durch die Haftpflichtversicherung gedeckt. Zudem wird im Gesetzestext neu in Art. 59 Abs. 1 VVG explizit erwähnt, dass sich die Haftpflichtversicherung neben der Haftpflicht von Vertretern des Versicherungsnehmers sowie der mit der Leitung oder Beaufsichtigung des Betriebs betrauten Personen auch alle weiteren Arbeitnehmer des Betriebs erstreckt. Die besagte Normierung darf zudem gemäss Art. 59 Abs. 3 nicht zum Nachteil des Anspruchsberechtigten abgeändert werden.
Christoph Frey/Anna Menzi
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